Rudel im Berner Oberland
Der Stiggel fühlt sich zwar am wohlsten in sicherem Abstand zu seinen Artgenossen, weshalb der Eindruck entstanden ist, es gebe weder Kommunikation noch eine soziale Struktur in der Stiggelgesellschaft. Dies wird allein schon durch die Tatsache widerlegt, dass Stiggel in der Regel als Rudel vorkommen, das einen begrenzten Raum (Fewaad) eingrenzt. Oft sind sie dabei sogar durch Drähte oder Schnüre verbunden, was die Frage aufwirft, ob es sich dabei sogar um Kommunikations-mittel handelt. Bei genauerer Betrachtung gibt es also komplexe soziale Strukturen.
In einem Stiggelrudel herrscht eine feste, aber nicht unveränderliche Hierarchie.
Gegen Ende des Winters beginnen die Revierkämpfe. Die stärksten Stiggel fordern sich durch auffällige Farbelemente heraus und tragen ihre Konkurrenz durch intensives Anstarren aus, das sich mitunter über mehrere Wochen hinziehen kann. Der Sieger darf sich in den Sommermonaten auf den größten Zaun freuen.
Wie in jedem Rudel gibt es unterhalb der Hierarchie auch individuelle Freundschaften und Kleingruppen, die sich besonders nahe stehen. Neben der gegenseitigen Holzpflege lässt sich auch bei diesen Kleingruppen eine intensive Kommunikation beobachten, die vom Rest des Rudelns meist nicht wahrgenommen wird.
Stiggel haben etliche natürliche Feinde, sind aber dennoch als Gruppe nicht wehrlos, was für starke soziale Bindungen und ein wirksames Moralsystem spricht. Bei Gefahr bilden sie dichte Strukturen und locken den Gegner in eine Art Labyrinth, in dem sie ihn unschädlich machen. Auf welche Weise letzteres geschieht, ist noch weitgehend unerforscht.
Eine ganz spezielle Stiggelart findet man in den Städten und Inseln der Lagune von Venedig, nämlich den Nobelstiggel (sticulus nobilis). Unter diesen herrscht eine streng beachtete Hierarchie, die sich u.a. in der Farbgestaltung ausdrückt. Nicht nur die Farbgebung, sondern auch erlaubte Abstände untereinander und vor allem zu Stiggeln, die in der Hierarchie höher stehen, sind bereits seit dem Mittelalter durch die päpstliche Verordnung „sticuli sticulorum“ streng geregelt.
In der Natur sieht man nicht selten ältere Exemplare, die von jüngeren und stärkeren liebevoll gestützt werden. Ein weiteres Beispiel für die Fürsorgestrukturen ist die Überwinterung.
Während die meisten Stiggel den Winter im Freien verbringen, ziehen sich jüngeren und empfindlicheren zu Beginn der kalten Jahreszeit gerne unter ein schützendes Dach zurück, wo sie dann in einer Art Dämmerzustand eng zusammengekuschelt überwintern. Ein Leitstiggel bewacht indessen das Nest.
Wie in anderen Gesellschaften besitzen auch Stiggelgruppen unterschiedliches Prestige.
Was erträumt sich ein Jungstiggel wohl, wenn er an die Zukunft denkt? Eine Stelle bei der Umzäunung des Center Court in Wimbledon? Eine Position an der Abbruchkante des Grand Canyon?
Der gemeine Stiggel ist eher bescheiden und begnügt sich mit einer Position an einer Viehweide oder einem Wanderweg. Insgeheim träumt aber wohl jeder ab und zu von einer Karriere als Weihnachststiggel (sticulus natalis) – ein Traum, der leider nur für die Wenigsten in Erfüllung geht.
Seit Urzeiten macht sich der Mensch die Stiggel zunutze. Seine Domestizierung begann vermutlich bereits, als frühe Kulturen Palisaden zum Einhegen von Vieh errichteten.
Noch beginnt jedes Jahr in der Lagune von Venedig die große Stiggelzähmung. Besonders prächtige Exemplare werden mit dem Lasso eingefangen, an Ort und Stelle fixiert, wo sie sich mit der Zeit an ihr stationäres Dasein gewöhnen können. Das bei anderen Spezies übliche Markieren mit Brandzeichen ist hier jedoch unüblich.
In der modernen Welt ist das Bewusstsein für die Welt der Stiggel nahezu verschwunden. Das war im Mittelalter noch vollkommen anders. Die Stiggel wurden als wichtige Helfer der Menschen mit fast religiöser Verehrung bedacht. Diese bezog sich sowohl auf die Stiggel allgemein, aber besonders auf die Anbetung des persönlichen Schutzstiggels, dessen bildliche Darstellung im Haus aufbewahrt und dort regelmäßig angebetet wurde.
Ein gut erhaltenes Zeugnis dieses Kults ist die Stiggelgruppe der kaiserlichen Familie von Friedrich Barbarossa in der Kaiserpfalz Gelnhausen.
Auch in der Volksmythologie haben die Stiggel heute noch eine gewisse Bedeutung. Ob diese beiden Exemplare aus dem Bachgau volkstümliche Gottheiten darstellen oder eine andere Bedeutung haben, bleibt noch zu erforschen.
Das Zusammenleben mit Menschen ist für die Stiggel oft, aber nicht immer von Vorteil, besonders dann, wenn sie mit widersprüchlichen Botschaften konfrontiert werden. (Double bind)
Nicht selten entstehen daraus psychische Probleme und persönliche Krisen. Trotz ihrer ortsfesten Lebensweise verlieren sie bisweilen die Orientierung, wenn sie als Wanderstiggel (sticulus pedestris) misbraucht werden. Fragen wie „Wo stehe ich und wo will ich hin?“ können bei sensiblen Exemplaren bis zu Erkrankungen des schizophrenen Formenkreises führen.